Interview mit Sukadev Bretz – Gründer von Yoga Vidya

Heute stellen wir euch Sukadev Volker Bretz (Jahrgang 1963), Schüler von Swami Vishnu-Devananda, Autor und Gründer von Yoga Vidya, vor. Yoga Vidya ist Deutschlands größte Ausbildungsstätte für Yoga. Auf seinen perfekt strukturierten Webseiten findet ihr eine Vielzahl von interessanten Videos und Podcasts zum Thema Selbstfindung und Yoga.

Wer ist Sukadev Bretz und was ist Yoga Vidya?

Ob des unglaublichen Wachstums von Yoga Vidya, das mittlerweile in 80 deutschen Städten vertreten ist, wurde Sukadev Bretz oftmals öffentlich kritisiert. Begriffe wie „Yoga Fabrik“ und „Masse statt Klasse“ sind in Online-Medien zu finden. Wer sich aber tiefer mit der Selbstfindungsmaterie auseinandersetzt, erkennt, mit wie viel Liebe und Hingabe die Online-Inhalte von Yoga Vidya erstellt wurden. Sukadev selbst wirkt zurückhaltend und freundlich und ist in all den Jahren seiner Linie treu geblieben: spirituelle Erfahrung trifft perfekte Organisation und Unternehmertum – beides im uneingeschränkten Dienst am Nächsten: in der Verbreitung des Yoga.

Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass wahre Selbstfindung nur nackt, zurückgezogen in einer Höhle geschehen darf. Wahre Selbstfindung ist ein innerer Erkenntnisprozess, der in Sukadev Bretz nach meinem Empfinden sehr weit fortgeschritten ist.

Eine Frau beim Yoga in der Natur

Das Interview mit Sukadev Bretz

1.) Yoga als spiritueller Weg fördert das Erkennen der Wirkungsweise des Egos. „Wer bin ich?“ ist eine zentrale Frage der Advaita Vedanta. Gibt es für dich heute eine Identifikation mit etwas, die sich hartnäckig hält, die es zu bearbeiten gilt und die dich „beschäftigt“?

Wer bin ich? Das ist tatsächlich die zentrale Frage des Advaita Vedanta. Das Loslassen aller Identifikationen, aller Verhaftungen, ist dabei ein entscheidendes Mittel. Abhyasa und Vairagya, Üben und Loslassen, werden in den beiden wichtigsten Yoga Schriften (Yoga Sutra und Bhagavad Gita) als wichtigste Mittel zum Erwachen genannt. Auf dem spirituellen Weg gilt es zum einen, sich selbst auch im relativen Sinne anzunehmen und zu lieben. Auf der anderen Seite ist es wichtig, sich nicht damit zu identifizieren. Ich sehe es momentan in vielen Aspiranten, die sagen „so bin ich halt“, „das ist nicht mein Ding“, „das habe ich noch nie gekonnt“, und die dann in altbekannten Bahnen verharren.
Ich bin ja schon seit 35 Jahren Yogalehrer. Mir erscheint es so, als ob die Identifikation mit Selbstbild von Psyche, Charakter, Talenten und Lebensaufgabe erheblich stärker geworden ist als früher. Es erscheint mir so, dass vor 30 Jahren Menschen sich eher identifiziert haben mit ihren äußeren Rollen, Alter, Beruf, Familienstand, Nation etc. Früher waren Menschen bezüglich ihrer Talente und Fähigkeiten offener, neugieriger, eher bereit, Neues auszuprobieren. Heute erscheint mir, dass diese starke Fixierung auf das eigene Selbstbild viel mehr im Vordergrund steht. Und diese Verhaftung an ihr eigenes Selbstbild führt Menschen dazu stecken zu bleiben. Dabei überlege ich natürlich auch, inwieweit ich mich auch mit einem solchen Selbstbild identifiziere und beschränke.

2.) Schüler tendieren oftmals dazu, dem Lehrer gefallen zu wollen. Höchst disziplinierte Übende machen das scheinbar Richtige aus den falschen Gründen. Sind dies überhaupt falsche Gründe? Wie gehst du als erfahrener Lehrer damit um?

Es ist kein Fehler, wenn Schüler besonders diszipliniert üben. Meistens tun sie das ja nur für eine gewisse Zeit. Eine Phase intensiver Praxis ist sicherlich etwas sehr Wertvolles – egal aus welchen Gründen Aspiranten das tun. Natürlich haben Lehrende eine besondere Verantwortung gegenüber Aspiranten, die besonders engagiert sind, insbesondere wenn sie auf ihren Lehrer, ihre Lehrerin, fixiert sind: Es ist wichtig, dass Aspiranten schrittweise mehr und mehr Zugang zur eigenen Intuition bekommen, sich öffnen für die göttliche Führung an sich. Gerade bei sehr enthusiastischen Aspiranten ist es wichtig, dass der Lehrer, die Lehrerin, sich selbst eher im Hintergrund hält.

So kommen Aspiranten zu tiefen spirituellen Erfahrungen – und zur Freiheit. Gerade Aspiranten, die sehr eng mit dem Lehrer sein wollen, von ihm Anerkennung bekommen wollen, sollten zu mehr Autonomie kommen – und das gelingt am besten, indem Lehrende nicht zu sehr zum „Therapeuten“ werden. Denn die Verbindung der Rolle des Psychotherapeuten und des spirituellen Lehrers, was westliche Aspiranten oft wünschen, birgt die Gefahr der mangelnden Autonomie des Aspiranten.

3.) Auch Selbstzweifel lässt sich erkennen und transformieren. Was war der für dich schwierigste Punkt am Selbstfindungsweg, wo du dich selbst in Frage gestellt hast und deine Bemühungen abbrechen wolltest?

Ich war nie an einem Punkt, alle Bemühungen abzubrechen. Denn ich war seit meiner Jugend davon überzeugt, dass ein rein äußerlich orientiertes Leben mich nicht glücklich machen würde. Und ich hatte seit meiner Kindheit spirituelle Erlebnisse, die mir klar machten, dass es eine höhere Wirklichkeit gibt. Durch diese Erfahrungen, die sich ja bis heute immer mehr vertiefen, habe ich ein tiefes Vertrauen in den spirituellen Weg und in die göttliche Führung. In meinem Leben gab es eher Zweifel, was die richtige Weise ist, Spiritualität zu leben. Ein schwieriger Punkt war vielleicht um das Jahr 2000: Als Yoga Vidya gut etabliert war mit einem Dutzend Zentren und einem Ashram und einem enthusiastischen, engagierten und sehr fähigen Team von Yogalehrern, kam die Frage auf: Steht jetzt der Schritt einer größeren Erweiterung an? Oder wäre es klüger, es bei dieser Größe zu belassen?

Ich zog mich da für mehrere Monate zurück, in denen ich sehr viel Meditation und andere Yoga Praktiken übte und Swami Sivananda um Führung bat. Dabei kam die innere Überzeugung, dass wir mutig den nächsten Schritt wagen sollten, dass es aber noch etwas dauern könnte. Drei Jahre später entstand dann der neue Ashram in Bad Meinberg – wodurch Yoga Vidya zu einer ganz anderen Größe wuchs. Ab da musste ich viele Aufgaben, auch das Leiten von Ausbildungen, das Anleiten von neuen Aspiranten, den bisherigen Schülern überlassen – und ich stellte fest, dass sie das sehr gut taten. Auf gewisse Weise bin ich jetzt auch an einem Punkt: Inzwischen habe ich in den Yoga Vidya Ashrams und Zentren ein so großartiges Team, dass sie eigentlich alles sehr gut auch ohne mich können… Und diejenigen, mit denen ich im Alltag zu tun habe, sind schon so lange dabei, dass sie auch nicht mehr wirklich meine Führung brauchen. So bin ich momentan mehr als Autor von Videos und Internetartikeln aktiv, die Leitungsrolle ist sehr in den Hintergrund getreten.

Schriftzug Leitfaden zur Selbstreflexion
4.) Bei manchen Suchenden führt die Einschränkung des Egos zu einer Form der „kalten Spiritualität“. Ich bin nicht angehaftet, Ich bin frei, Ich bin nicht meine Beziehung, Ich bin nicht meine Leidenschaft… Ja, „Ich bin“. Kalt! Unnahbar! Humorlos! Was ist dein Rat an Suchende, die ihre Lebensfreude opfern, um spirituell möglichst vorwärts zu kommen? Der Rat, loszulassen scheint bei jenen einfach zu verhallen…

Ich denke, es gibt so viele Wege, wie es Pilger gibt. Nicht jeder muss den spirituellen Weg voller Freude gehen. Es gibt auch einen Platz für Aspiranten, die eher die Form der „kühleren Spiritualität“ leben wollen. Ich sehe heute oft die „Diktatur der Freude und der guten Laune“. Diejenigen, die anderen „Unnahbarkeit“ vorwerfen, sind heutzutage mehr im Vordergrund als diejenigen, die den Weg eher verhaftungslos und gelassen gehen. Ich glaube, die sogenannte „Unnahbarkeit“ ist nicht wirklich Unnahbarkeit, sondern eher ein Zeichen eines introvertierten Temperamentes. Es gibt ja die beiden Grundtemperamente Introvertiertheit und Extravertiertheit. Vermutlich 20% der Aspiranten sind eher introvertiert, 20% eher extravertiert, vielleicht 20% zyklisch abwechselnd introvertiert-extravertiert – und der Rest irgendwo dazwischen.
Ich habe Folgendes gelernt: Wenn jemand mir erzählt, dass der andere unnahbar, kalt, humorlos sei, dann ist der der mir das sagt meistens extravertiert, und der über den er spricht ist eher introvertiert. Und wenn mir jemand erzählt, ein anderer Aspirant sei so oberflächlich, dann ist der Erzählende meistens introvertiert und der andere extravertiert. Ich würde also denjenigen raten, die intensiv üben, um vorwärts zu kommen: Macht weiter. Spürt Gottes Gegenwart. Bittet um Führung. Spürt in euch selbst, in anderen und in der Tätigkeit die Gegenwart des Göttlichen. Dann kommt ja auch die Freude auf. Und manche haben eben für eine Weile eine introvertiertere Phase – die dann auch in eine extravertiertere Phase wieder münden kann.

5.) Manche Menschen lernen durch den Lehrer und vermeiden dadurch Passionswege. Andere benötigen das Leben als Lehrer und die volle Dosis an Schmerz, um nachhaltig umzudenken. Bei „unbelehrbaren“ Schülern, die eigentlich das Leben benötigen: lehrst du sie trotzdem oder nicht? Wie gehst du mit jenen Schülern um?

Ich führe Menschen nicht sehr eng. Durch spirituelle Praktiken und spirituelle Unterweisung bekommen Menschen Inspiration. In jedem Fall ist das Leben der Lehrer. Manchen helfen die Lehren und die Unterweisung, Fallgruben zu vermeiden. Andere wollen jeden Fehler selbst machen – und lernen so am besten. Ich vertraue da ganz dem Leben, dem Karma, Gott, dass jeder Aspirant, jede Aspirantin, die Lektionen erhält, die er/sie braucht. Und ich gehe davon aus, dass jeder auch unbewusst so geführt wird, wie es für ihn/sie am besten ist.

6.) Thema „Innerer Frieden“ und Gelassenheit: es ist evident, dass du in dir ruhst. Kann innerer Frieden nicht auch dafür genutzt werden, tatsächliches Unrecht in der näheren Umgebung zu ignorieren und damit eine notwendige Handlung nicht zu setzen?

Tiefe Meditation, innerer Frieden und Gelassenheit helfen mir, Zugang zur göttlichen Führung zu bekommen. Und es ist die göttliche Führung, die dann dafür sorgt, dass ich engagiert bleibe. Leider kann man nicht alles Unrecht der Welt beheben. Aber wenn man intensiv um innere Führung bittet, wird man die Kraft und die Inspiration bekommen, sich für das Richtige (oder das was man dafür hält) einzusetzen.

7.) Thema „heiliger Zorn“: glaubst du, gibt es Situationen, in denen es notwendig ist, dass du vehement auftrittst, um eine Situation zu ändern? Wenn ja: wann warst du das letzte Mal „wütend“? Wenn nein: wie handhabst du es, wenn dein knurrender Hund kurz davor ist, dich zu beißen und er dabei deine Gelassenheit ignoriert?

Ja, sicher gibt es Situationen, in denen ich auch schon vehementer aufgetreten bin. Das ist in den letzten Jahren seltener geschehen als früher – dann hat es aber auch umso stärkere Wirkung, weil es für andere so überraschend kommt. Normalerweise ziehe ich es vor, eher ruhig zu reagieren. Wenn aber freundliche Hinweise nicht zu einer Änderung führen, kann ich auch vehementer werden. Ich habe auch festgestellt: Bei manchen Menschen ist es besser sehr sanft zu sprechen, bei anderen ist etwas mehr Energie in der Stimme hilfreicher. Bei Hunden glaube ich, dass sie eher durch Gelassenheit vom Beißen abgebracht werden als durch lautes Schreien…

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8.) Was war der größte Kritikpunkt deiner Lehrer an dich in Bezug auf deine eigene Entwicklung? Was war für dich das schönste Erlebnis als Suchender bzw. Findender?

Der größte Kritikpunkt meiner beiden ersten Lehrer vor über 30 Jahren war meine Ungeduld in Bezug auf die eigene Entwicklung und auch in Bezug auf mein Bemühen, Yoga zu verbreiten. Mein schönstes Erlebnis war 1987 eine Vision von Swami Sivananda. Ich wachte morgens um 3h auf, konnte nicht mehr schlafen, setzte mich hin zur Meditation und hatte eine Vision einer riesigen Lichtgestalt, in der ich Swami Sivananda sah. Ich spürte wie der Meister mich in andere Bewusstseinsebenen hob. Als ich wieder zum Normalbewusstsein zurückkehrte, war mir klar, was meine Aufgaben in den kommenden Jahren sein würden. Visionen von Swami Sivananda habe ich seitdem beständig – aber 1987 war sie erstmals besonders intensiv.

9.) In den Medien wird „Yoga Vidya“ ob seiner Größe und des Erfolges auch kritisiert. Sehnst du dich manchmal nach der Ruhe eines Einsiedlers? Aus eigener Erfahrung weiß ich: Je größer man wird, desto mehr Kritiker gibt es auch. Wie gehst du damit um?

Ja, das kann ich bestätigen: Je mehr man Gutes tun will, umso mehr Kritiker gibt es. Und ich bin bis heute nicht immun geworden gegen unsachliche Kritik – vielleicht hege ich immer noch den Traum einer heilen Welt, in denen Menschen freundlich und mitfühlend miteinander umgehen. Wie vermutlich viele spirituelle Lehrer habe ich zwei Seiten: Zum einen den Einsiedler, der einfach meditieren will und in der Wonne der Meditation verweilen will, sich zurückziehen will aus dieser Welt der Dualität und des Streites. Und zum anderen denjenigen, der anderen helfen will, andere inspirieren will, sich geführt und getragen fühlt und bereit ist, sich für die gute Sache intensiv einzusetzen, bereit ist dafür viele Opfer zu bringen. Ich selbst spüre einen starken Auftrag von Swami Sivananda, Yoga stark zu verbreiten. Wenn diese Seite stark ist, dann macht mir Kritik auch nichts aus, ich sehe sie als Ansporn, manchmal als Anregung, manchmal als Inspiration. Manchmal wird aber auch meine „Einsiedler-Seite“ stärker – dann sehne ich mich tatsächlich nach einer „Höhle“… Letztlich vertraue ich auf Gott und übergebe alles Gott.

10.) Wenn dein Lehrer dir sagen würde, es ist an der Zeit, alles loszulassen und Yoga Vidya ruhen zu lassen. Könntest du es?

Einen äußeren Lehrer habe ich ja nicht mehr – mein physischer Lehrer hat 1993 seinen Körper verlassen. Wenn mein innerer Lehrer sagen würde, es wäre Zeit alles loszulassen, wäre ich sicherlich bereit dazu. Wir haben ja in der 25-jährigen Geschichte von Yoga Vidya immer wieder Phasen gehabt, wo es finanzielle und andere Krisen gab und es nicht klar war, ob es weiter gehen kann. Yoga Vidya hat ja hohe Kredite aufgenommen für die Ashrams und keine finanzielle Reserven. Daher gibt es immer wieder finanziell-wirtschaftliche Existenzkrisen für den ganzen Yoga Vidya Verein. So habe ich gelernt, innerlich immer wieder loszulassen. Ich bin der Überzeugung, dass letztlich alles durch einen göttlichen Willen geschieht – so bitte ich jeden Tag um Führung und bitte darum bereit zu sein für alles, was sich entwickeln soll.

Kontaktmöglichkeit Yoga Vidya

Yoga Vidya findet ihr im Netz unter www.yoga-vidya.de.

Wir bedanken uns bei Sukadev Bretz für das Interview.

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Bildquellen

  • Frau beim Yoga: Afanasieva | Shutterstock.com

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